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Merle Marquardt

Aktualisiert: 27. Okt. 2020





Als ich am Krähenteich ankam, war Merle schon da. Ich musste grinsen, als ich sah, dass sie Baus, ihren Hund, mitgebracht hatte. Beide begrüßten mich herzlich. Es war ein angenehmer Sommertag, ein Wechsel zwischen Sonne und Wolken mit leichtem Wind, welcher trotzdem nur wenige Menschen in den Park gelockt hatte. Wir machten es uns bequem und freuten uns über unser Wiedersehen.

Merle Marquardt

Kennengelernt habe ich Merle während der Ersti-Woche 2017. Wir waren gemeinsam Teil eines herausragend erfolglosen Rallye Teams, welches es im Endeffekt nicht einmal geschafft hatte, den eigenen Punktezettel abzugeben und das, obwohl wir beiden für mögliche Extrapunkte trotz Regens und kühler Temperaturen im Kanal baden waren. Nun saß sie vor mir, ruhig, fast schüchtern lächelnd und in leicht gekrümmter Sitzhaltung, welche sie kleiner erscheinen ließ, als sie ist. Es ist diese Ambivalenz aus offensichtlicher Verrücktheit auf der einen und Zurückhaltung auf der anderen Seite, welche mich noch heute an Merle fasziniert. Je nachdem in welchem Moment man sie trifft, steht sie auf der Bühne eines Theaters und brüllt lautstark aus sich heraus und in einem anderen Moment sieht man sie gedankenverloren inmitten einer Menschenmenge sitzen.

Seit dem Beginn unseres Studiums in Lübeck vor nun fast drei Jahren, hat sich viel getan. Während ich gerade mal ins zweite Drittel meines Medizinstudiums starte, hat Merle ihr Bachelorstudium in Molecular Life Science (MLS) fast abgeschlossen. Gerade ist sie dabei, ihre Bachelorarbeit zu schreiben. Das Thema: zirkadiane Rhythmik. Doch auch neben dem Studium ist Merle sehr aktiv. Neben ihrem Engagement bei Rock Your Life ist sie Mitbegründerin und Leiterin der interkulturellen Theatergruppe Colourful Minds. Jeden Mittwoch trifft sich die aus mittlerweile fast 30 Schauspieler*innen bestehende Gruppe, um Impro-Theater zu spielen oder die selbst geschriebenen Stücke einzuüben, welche später dann im Treibsand aufgeführt werden.

Genau woher diese Idee kam, welches die dahinterstehenden Überzeugungen sind und welche prägenden Momente Merle auf dem Weg dorthin erlebt hat, wollte ich in diesem Gespräch herausfinden.

Der Moment, wenn jemand an dich glaubt

Aufgewachsen ist Merle in Hamburg und München. Während ihres eigenen Konfirmationsunterrichts war sie von der dort miterlebten Konfi-Freizeit so begeistert, dass sie begann, sich in der örtlichen evangelischen Jugend zu engagieren. Gleich zu Beginn entschied sie sich dazu eine Juleica-Schulung (Jugendgruppenleiter*innenkurs) zu machen. Ein einwöchiger Kurs, in welchem sie die Grundlagen der Gruppendynamiken, einen Pool an Aktivitäten, Ideen und Spielen, sowie die rechtlichen und medizinischen Grundlagen für den Umgang mit Jugendlichen und das Planen von Jugendfreizeiten lernte. Genau diese Woche, bzw. noch genauer ihre Seminarleiterin Franzi, haben in Merle den Grundstein für ihr von dortan folgendes Engagement gelegt.

„Ich hatte das Gefühl, endlich etwas Sinnvolles zu tun. In dieser Gruppe war ein Schlag Mensch, in dem ich mich einfach wohl fühlte. Ich hatte das erste Mal das Gefühl mich selbst richtig kennenzulernen und, was mich glaube ich am meisten geprägt hat, ich hatte zum ersten Mal das Gefühl, dass jemand wirklich an mich glaubt. An mich und daran, dass ich etwas bewegen kann. Dieser Jemand war Franzi, meine Seminarleiterin und das hat mich total verändert. Vorher hatte ich nie daran geglaubt, dass ich groß etwas verändern kann, ich war sogar richtig schüchtern und hatte keinen Mut. Aber Franzi und die gesamte Gemeinschaft in der Jugendarbeit haben mir diesen Mut zugesprochen und vielleicht den Kick gegeben, den es manchmal braucht, um loszulegen.”

Von Jugendtheater, Ausbildung und Ausland bis nach Lübeck

Nach ihrem Abitur machte Merle dann eine Ausbildung zur Industriekauffrau und obwohl sie zugab, dass sie schon währenddessen merkte, dass dies nicht ihr späterer Beruf werden sollte, zog sie die Ausbildung durch. Was sie in dieser Zeit aber wirklich erfüllte, waren ihre Begleitung von Jugend-Theater-Musikfreizeiten in Italien und die Projekte ihrer Theatergruppe in München. Von dem Leiter dieser Theatergruppe lernte Merle fast alles, was sie heute in dem Projekt Colourful Minds umsetzt. „Er war Theaterpädagoge und Schauspieler und wusste einfach unglaublich viel über das Theaterspielen. Ohne ihn und die Zeit dort, wäre die Theatergruppe hier in Lübeck nicht möglich gewesen. Da hätte ich mich mal wieder nicht getraut.“

Nach Abschluss der Ausbildung zog es Merle ins Ausland. Schließlich fand sie ein Projekt in einem „Nature Reserve“ in Südafrika, in der Nähe von Kapstadt, wo sie für ein halbes Jahr als Freiwillige mithalf. Ein Teil der Arbeit, welcher sie sehr geprägt hat, war die Aufklärung von lokalen Schulklassen über das Zusammenspiel von Mensch und Natur.

„Viele der Klassen kamen aus den ärmeren Townships Kapstadts. Eine Begegnung, die mir besonders in Erinnerung geblieben ist, war einer ihrer Besuche. In unserem Reserve hatten wir einen kleinen See und dieser war tatsächlich ziemlich verdreckt. Überall lag Müll rum, womit er wirklich nicht zum Baden einlud. „Woher kommt der Müll?“, fragte mich eines der Kinder. Die Antwort war, dass es zum Großteil genau der Müll war, den diese Kinder und alle anderen Bewohner*innen Kapstadts dort in die Flüsse und Bäche warfen, welche teilweise dann zunächst in den kleinen See flossen, bevor sie ins Meer mündeten. Als ich den Kindern den Zusammenhang erklärte, konnte ich die ungläubigen Blicke sehen und spürte, dass sie sich noch nie Gedanken darüber gemacht hatten, wohin der weggeworfene Müll eigentlich verschwand. Nur eines wussten sie: Am nächsten Morgen, war er nicht mehr da. Diese Erfahrung zeigte mir, wie Bildung Augen öffnet und in mir kam der Wunsch auf Umweltverständnis und Bildung miteinander zu verbinden. Und so begann ich dann mein Studium der Molecular Life Science in Lübeck.“

Colourful Minds-Engagement – ein Geben und Bekommen

„Nun seid ihr ja mit zwischen 20-30 Schauspielenden bei Colourful Minds zu Gange. Wie ist es dazu gekommen?“, fragte ich Merle.

„Während meiner Tätigkeit bei Rock Your Life habe ich Ellyn kennengelernt und im Grunde hatte sie die Idee im Kopf schon komplett ausgearbeitet. Sie erzählte mir davon und fragte mich, ob ich Lust hätte, das Projekt mit auf die Beine zu stellen. Und das war wieder einer dieser Momente, in denen ich nicht überlegen musste. Ich war sofort begeistert und so machten wir uns im Frühjahr 2018 daran, die ersten Proben zu planen. Unser Ziel war es zu zeigen, dass Menschen miteinander Spaß haben können, egal wo sie herkommen, egal welcher Kultur sie angehören und so weiter. Es begann mit Impro-Theater, doch schon bald fingen wir an, an unserem ersten eigenen Stück über Regierungsformen zu schreiben. In Kooperation mit dem Integrationsprojekt FLOW wuchs die Gruppe schnell und Mithilfe von Mourad von Rock Your Life haben wir im Sommer dann einen Verein gegründet. Spätestens ab da war Colourful Minds ein lebendiger Begegnungsraum von ganz unterschiedlichen Arten von Menschen und Ellyn und ich mittendrin! Im Nachhinein ist es fantastisch, wie das alles lief!“

„Und wie viel Aufwand steckt dahinter?“

„Klar ist der Aufwand nicht klein. Ich verbringe viele Zeitstunden mit Planen und Organisieren, doch ist Engagement ja keine Einbahnstraße. Ich bekomme 10x mehr Energie zurück, als ich Aufwand hineinstecke. Engagement ist ein bisschen wie das Leben mit einem Hund. Ja, es ist Arbeit und manchmal rege ich mich richtig darüber auf, wenn Baus mal wieder etwas angestellt hat, doch dieser Moment, wenn ich nach Hause komme und er mich mit einer solch ehrlichen Freude erwartet – dieser Moment ist einfach unbezahlbar! Und genauso ist es auch bei Colourful Minds. Ja, ich investiere viel Zeit und Energie, aber wenn die Truppe dann ein Picknick für unser Leitungsteam vorbereitet oder ich sehe, wie sich innerhalb der Gruppe Freundschaften bilden, von Menschen, die sich sonst wahrscheinlich nie kennengelernt hätten, dann geht mir das Herz auf, von den sprachlichen Fortschritten unserer nicht-gebürtig deutschen Schauspielenden mal ganz abgesehen!“

Manchmal braucht es einen Kick

„Nach deinem Bachelor möchtest du aus Lübeck weg, hast du erzählt. Glaubst du, dass du Colourful Minds mit in die neue Stadt nehmen wirst, wo auch immer es dich hinziehen wird?“

„Ja, ich halte es nie lange an einem Ort aus und habe das Gefühl, dass nach dem Bachelor ein guter Moment ist, wieder etwas Neues auszuprobieren! Ob ich Colourful Minds auch dort aufbauen werde, weiß ich noch nicht. Mich erinnert die Frage an einen Moment auf der Erstsemester-Messe im vorletzten Jahr. Dort habe ich Rock Your Life vertreten und hatte viele coole Gespräche. Doch als ich dann fragte, ob die Erstis Lust hätten, mit dabei zu sein, kam ganz häufig die Aussage nach dem Motto: „Keine Zeit!“ Ich glaube, dass ist eine kleine Ausrede. Klar, können sie nicht wissen, wie zeitaufwändig das Studium an sich wird und sie wollen sich erstmal alles freihalten, doch glaube ich, dass sie grundlegender einfach nur einen kleinen Kick brauchen. Einen Menschen, wie Franzi, meine Jugendgruppenleiterin, der ihnen sagt, dass sie es draufhaben, dass sie das auf jeden Fall schaffen können, Engagement und Studium. Es braucht „Juleica-Erfahrungen“. Diese können für jeden anders aussehen, und doch glaube ich fest daran, dass wir uns ausprobieren müssen, um uns entwickeln zu können.“

„Ich verstehe! Und jetzt stehst du mit deinem bevorstehenden Umzug wieder vor der gleichen Situation. Du brauchst jemanden, der dir einen kleinen „Schubs“ verpasst, richtig?“

„Genau! Denn ich habe auch Angst, wenn ich Colourful Minds in eine neue Stadt bringen würde. Wird es genauso gut laufen, wie in Lübeck? Werde ich immer vergleichen? Wird es scheitern und ich bin total enttäuscht?“

Mit diesem Gedanken endete unser Gespräch am Krähenteich. Wir sprangen, wie es die Tradition wollte, ins Wasser und verabschiedeten uns herzlich voneinander.

Ich glaube, dass Merle schon vielen Menschen einen „Kick“ gegeben hat. Sie strahlt Freude aus und hat die Gabe diese mit anderen zu teilen. Insofern bin ich mir sicher und wünsche es ihr, dass sie auch in neuen Städten immer wieder den Mut findet, Projekte aufzuziehen und Menschen um sich hat, die ihr diesen Mut zusprechen!


Lübeck im Juli 2020, Erik Jentzen

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